Donnerstag, 23. September 2010

In a Manner of Speaking

In a manner of speaking
I just want to say
that I could never forget the way
you told me everything
by saying nothing
Nouvelle Vague // In a Manner of Speaking

Bei Verlassen des Saals steigt einem der Geruch von Restmüll in die Nase, dreckig und verwaist bleibt die Bühne zurück. Ivo van Hove gibt mit seiner Inszenierung von Molières Der Menschenfeind an der Berliner Schaubühne Gefühl und Gesellschaft neue Formen.

Aufrichtigkeit und Schmerz. Das Stück beschreibt den adeligen Menschenfeind Alceste, gespielt von Lars Eidinger, der die Gesellschaft für ihre Lüge und Heuchelei verabscheut. Sich selbst hat er zum Ziel gesetzt, über die Grenzen aller Umgangsformen hinaus ehrlich zu leben. So lässt er den Höfling Oronte (David Ruland), der ihn nach seiner Meinung fragt, schonungslos wissen, was von dessen stümperhaftem Sonett zu halten sei. Als dieser verärgert vor Gericht ziehen will sieht sich Alceste in dem Bild seiner Mitmenschen bestätigt und plant genussvoll, den Prozess zu verlieren. Dabei ist er einer der hasst und ebenso kompromisslos liebt. Er entflammt für die schöne Witwe Célimène (Judith Rosmair), die im Gegensatz zu ihm mit der Gesellschaft, mit den Männern kokettiert, nicht allein sein kann und ihn doch, vielleicht, ein bisschen gegenliebt.

Van Hove inszeniert einen beeindruckend körperlichen Lars Eidinger, der sich selbst gegen die Lüge vollständig dekonstruiert, sich bis ins Rektum mit Lebensmitteln beschmiert und in mitreißender Rage ein Bühnenbild aus dem Inhalt von Müllsäcken erschafft. Bestechende Tiefenschärfe im sozialen Morast. Das zunächst als Schwäche der Regie diagnostizierte Gefuchtel mit Apple-Produkten erhält im Kontrast des Gestanks seine Daseinsberechtigung, wird zum gewollten und gekonnten Sinnbild im Jetzt. Die Erschütterung wird fühlbar wenn er schreit hier hast du mein Herz, einer, der fällt nachdem ihm das einzig Geliebte genommen scheint.

Die Vorlage Molières aus dem 17. Jahrhundert lässt perpetuierte Rollenklischees, die schöne Unstete und der aufrecht Liebende, vermuten. Dennoch gelingt es der Inszenierung, auch von Célimène ein tiefgründiges Bild zu zeichnen, dass letzten Endes ihre klatschhafte Koketterie als Angst vor Einsamkeit enttarnt. Und das macht sie nicht zur Frau sondern zum Menschen, gleich den Männern, die Alceste umgeben.

Das Ende: ein verzweifelter Kuss. Ihr fehlt der Mut um durchzubrennen, ihm fehlt die Kraft zu bleiben. Ob er allein geht bleibt offen.

Vor drei Jahren hat van Hove den Menschenfeind bereits in New York inszeniert. Es scheint ihn eine besondere Faszination zu treiben, es wieder und diesmal in Berlin zu tun („ein heiliger Ort für Theater“, wie er findet). Im Interview mit der zitty gibt er folgende Erklärung: „Molières Dramen sind Sozialdramen, sie handeln von seiner Gesellschaft und gleichzeitig von der unseren. Seine Typen sind Metaphern, Figuren, die uns über das Heute nachdenken lassen.“ Dafür und für die Liebe darin beste 120 Minuten.

[Bild: Schaubühne]

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