Freitag, 16. Juli 2010

Achtung, es bewegt sich

Szenen auf der Autobahn, müde Augen nach zerredeten Nächten, zerknautscht, zerliebt. Ein heftiger Regenguss zwischen Amsterdam und Brüssel, den Geschmack von lauwarmer Cola auf der Zunge, im Radio läuft Lemon Tree.

Der süße Hauch der Unmöglichkeit zwischen zwei Enden der Welt verbindet sich mit dem Lippenstift am Rand meines Weinglases in der Dämmerung, Erinnerungsaustausch via jpeg-Daten in einer europäischen Nacht vor dem nächsten Abschied. The four of us, die vor vier Jahren zwischen den Kronen der Brisbane Skyline von Freiheit träumten, nun auf vier Sitzen eines gebrauchten Opel Astra, ein Roadtrip über Freundschaft und Fantasien, Exzess und eigenen Ethos.

Ein Augenpaar, das in Nahaufnahme verbleibt, mich ungläubig blinzeln lässt - vier Jahre zwischen zwei Herzen, ein Wimpernschlag in der Zeit.

Für mich ein Abschied auf der Laderampe eines Transporters, mein Heidelberger Leben in Kisten verstaut und auf dem Weg nach Berlin, ein Stück Vergangenheit und ein Stück neues Jetzt als Wegzehrung.

Sag, magst du was du siehst // oder siehst du was du möchtest // siehst du, was du möchtest // hält nicht still, es dreht sich // hältst du es aus oder hältst du es an // hältst du es klein - vergeblich // halt dich raus oder halt dich fest // Achtung, es bewegt sich.
Wir Sind Helden - Für Nichts Garantieren

+ soundtrack: The Dø - The Bridge +++ Wir Sind Helden - Labyrinth +++ Beau Young - Just a Memory

Freitag, 2. Juli 2010

Falsche Wimpern


Es riecht nach Chlor und zerlaufener Eiskreme, knappe Kleidung in erster Linie zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen bei 30 Grad im Schatten, nachrangig zur Förderung von Sexismen.

Vor kurzem versuchte das SZ-Magazin glauben zu machen, dass Pornoqueens als Feministinnen von heute gelten wollten und die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte dabei bereits zu großen Teilen zunichte gemacht wären. Charlotte Raven schreibt von einer neuen Wortschöpfung, Femizissmus, der Kreuzung von Narzissmus und Feminismus, die uns empört aufhorchen lassen soll, die gute alte Zeit in höchste Höhen lobend, die Gegenwart in Sack und Asche. Die sexuelle Freiheit als Errungenschaft sei zum Zwang geworden, die Schwestern von einst als Gegenspielerinnen im Kampf um Schönheit, Anerkennung und maximale Vielfalt im Sexleben, oversexed and overfucked. Persönliche Bedürfnisse träten zu Gunsten eines höheren Erzählwertes ausgefallener Praktiken zurück, Frauen machten sich mit falschem Stolz auf Bartresen tanzend zu den Püppchen einer machoesken Gesellschaft. Das Szenario von sich selbst zu Objekten stilisierenden Weibchen ist dabei ebenso schockierend wie Ravens soziale Wunschvorstellung:

"Wir würden auf die falschen Wimpern einer Katie Price pfeifen. Wir würden unsere Lust an der Missionarsstellung mit dem Menschen neben uns im Bett wiederentdecken. In jeder Sphäre unseres Lebens wären wir frei genug, uns für die Normalität zu entscheiden."

Mit frisch gekürztem Schopf, dessen Spitzen an manchen Stellen keine zwei Zentimeter über die Kopfhaut ragen müsste ich es angesichts dessen bedauern, dass mein Deckhaar keinen Lockenwickler mehr zu fassen vermag. Ebenso ist der Schluss zu simpel, die Brüste einer Frau, die ihre Objektivierung zur Vollkommenheit gebracht hat, als bedauernswerte Idole der "Modernen Frau" zu betrachten. Die überzogene Sexualisierung heute aufwachsender Teenager ist nicht mit Texten zu bekämpfen, die nach Lippenstiftverbot klingen - und berechtigt erscheint auch die Frage, wie Charlotte Raven zur Bedeutung der Missionarsstellung in Bezug auf die männliche Dominanz in Schlafzimmern steht. Der Hauch eines zur Untermauerung schwarzweißer Thesen unbedingt gewollten Widerspruchs schwebt zwischen den Zeilen, des Widerspruchs zwischen Weiblichkeit und Feminismus, der sich bei genauer Betrachtung ebenso unbedingt verflüchtigen muss. Intelligente Weiblichkeit kennt keine Parallelen zu Frauen im Katie-Price-Format und bildet den gesünderen Kontrast zu kosmetischen Vaginaleingriffen als eine versuchte Bekehrung zu halbhohen Küchengardinen, Synonym für altbewehrte Verhältnisse der Intimität.

Bye-bye Sisterhood titelt das Missy Magazine zum selben Thema - mit wesentlich interessanteren Ergebnissen. Das Problem wird weniger in der vermeintlich sträflichen Abkehr von gesellschaftlichen Konstanten als in mangelnder weiblicher Solidarität verortet. Der Druck auf fünfzehnjährige Mädchen, das krasseste, interessanteste und freizügigste Leben führen zu müssen könnte wesentlich geringer sein, wenn ihnen von Frauen zwischen 20 und 30 nicht ein unerbittliches Konkurrenzprinzip vorgelebt würde. Der persönliche Erfolg, der für viele das Selbstverständnis bestimmt, wird ohne Rücksicht auf männliche oder weibliche Verluste angestrebt während frau dem Feminismus Gestrigkeit bescheinigt, das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, überkommene gesetzliche Regelungen wie die des Ehegattensplittings und allem voran ihre Mitstreiterinnen ignorierend. Der Wunsch ist naheliegend, sich bei all der als Freiheit missverstandenen Rücksichtslosigkeit auch in intimsten Sphären übertreffen zu wollen - rücksichtslos nicht zuletzt gegenüber sich selbst.

Das Symptom Femizissmus trägt einen realitätsnahen Kern - und doch kann die so beschränkte Freiheit nicht mit der Norm gleichgesetzt werden. Weibliche Freiheit liegt vielmehr darin, die eigenen Normen selbst zu setzen. Sie zu verwirklichen bedeutet, sich ihrer Mängel bewusst zu werden.

Nachtrag.
Letzte Tage in Heidelberg zerrinnen unterdessen klebrig wie einst gefrorenes Schokoladeneis, die Melancholie eines ersten Abschieds zu kitschigen Gitarrenklängen im Sonnenuntergang. Vorboten Berlins irgendwo auf der Autobahn zwischen Stuttgart und Amsterdam, Vorfreude und deutlich mehr Nostalgie als erwartet.

+ Soundtrack: Kate Nash // I Hate Seagulls +++ The Whitest Boy Alive // Above You

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