Donnerstag, 29. Oktober 2009

worte klauben

Der Herr Professor will frohen Mutes mit uns anfangen. Ihm liegt das Bürgerliche Recht sehr am Herzen, ins Schmunzeln gerät er über seine fast, nur fast schalkhafte Frechheit, den totgeglaubten Begriff "Fahrnis" für eine bewegliche Sache in die Gliederung seiner Vorlesung zu integrieren, um uns en-passant mit Altbewährtem vertraut zu machen.
Wie eine Datenmenge auf "so einem polulären Stick" aussieht, kann er sich allerdings nicht vorstellen, obwohl es sich sogar hier um ein Fahrnis handelt. Seine Stimme kiekst ein wenig bei der Betonung des Wortes, Stick, Abweichungen in der Tonlage untermalen die persönliche Distanz zum modernen informationstechnologischen Wortschatz. Stick. Ein Fremdkörper in der Monotonie des jahrhundertealten Gesetzestexts, dafür sei er zu alt, meint er, der Herr Professor, akkurat mit Schlips und höchstens fünfzig.

Alltag in der Uni, ich pendele zwischen den wichtigsten Vorlesungen und dem heimischen Schreibtisch hin und her, Klausurtermine rücken näher ohne maßgeblichen Erkenntnisgewinn in der verstreichenden Zeit. Abgehetzte gemeinsame Mittagspausen, Gespräche, die eine Zigarette dauern, manchmal auch nur zwei Schlucke meines Takeaway-Cappuccinos. Ich sehe mein virtuelles Kind leiden, mich vermissen, zu viele Dinge, die ich betexten und in Worte kleiden will, einen Moment lang stehenbleibend zwischen Bücherregalen in der Bibliothek. Bald zurück.

Soundtrack: Auletta // im Westen, auf den kurzen Wegen mit dem Fahrrad durch die Stadt frischen Wind in den Ohren.

Montag, 26. Oktober 2009

getagged: warum meine tasche eine tonne wiegt

Gestern in den späten Abendstunden aus Berlin zurückgekehrt sehe ich, dass mylady Frauenzimmer dazu einlädt, Inneres nach außen zu kehren und der Welt darzulegen, was meine Tasche zu einem Ziegelklotz macht, meine portablen Habseligkeiten für unterwegs. Gestern in der Nacht noch schnell meine Reisekostbarkeiten ausgepackt und abgelichtet komme ich der Einladung nach - mit größtem Vergnügen wird nun auch hier die Handtaschenfrage geklärt. Der Sportteil einer beliebigen Zeitung fehlt dem Innenleben meines schwarzen Lieblingsledermonsters, ich bedaure das Manko. Ein Sixpack Bier kann hinzugedacht werden.


Lektüre für 6 Stunden Fahrt: Prozesse von Peggy Parnass
Zigarettenpausenfilter
universitäre Pflichten I: Strafrechtslehrbuch
Geldbörse
Mobiltelefon
Aspirin, Kaugummi, Bonbon, Kugelschreiber, Lollipop mit Kirschgeschmack
Kalender
universitäre Pflichten II: Strafgesetzbuch
leere Kippenschachtel von Samstagnacht, sog. Geschenk eines offiziellen Nichtrauchers
Lieblingsorte merken: City Notebook Berlin
Lippenstift + Werbegeschenkfeuerzeug in Schallplattenform
Kaufmanns Lippenrettungskindercreme
Taschentücher
Etui mit optimistischem Inhalt: Sonnenbrille
Handschuhe
iPod
leere Bäckertüte, einstiger Behälter meines Reiseproviants, einem Putenbagel

Zurück am Schreibtisch hat mich Berlin noch immer in seinen sanften Klauen, meine Rückkehr an den heimischen Schreibtisch noch begleitet von Widerborstigkeit. Ein Wochenende mit girls on web, einer alten Freundin und Schampus weicht nur ungern dem Prüfungsalltag. Kurz vor meinem Weg in die eine-Woche-vor-der-Klausur-obligate Strafrechtsvorlesung gebe ich in dieser Sache den Löffel ab an Mercedes von Spazieromat. Zeig mir deine Unterwegsinspiration, meine Liebe.


Mittwoch, 21. Oktober 2009

fußnoten

Neben mir auf dem Schreibtisch liegt zwischen Tabakpackungen, Aschenbecher, Stiften, Gesetzestexten und Fallbüchern und Teetassen mit einer dünnen Haut auf dem abgekühlten Bodensatz eine Spieluhr, in rosa Hochglanzpappe gezwängt.
Kurze Notiz zur Klausurenphase, meine Bücher enthalten erst auf den vorderen Seiten hier und dort gekritzelte Randbemerkungen mit dunkelrotem Fineliner, weil die Allgegenwärtigkeit von kugelschreiberblau nicht mehr zu Farbkleksen taugt.

Die Spieluhr klebte auf einem Geburtstagsgeschenk, dem Buch von Peggy Parnass. Den Mann und mich erinnert sie an Kleinkindertage, im richtigen Tempo an der kleinen Metallkurbel drehend spielt sie die Internationale. Unsere Eltern haben offenbar irgendetwas richtig gemacht.

Freitag, 16. Oktober 2009

gegenwartsroman

Ich werde nicht die Erste sein damit, feststellend, dass wir jung sind, dass wir viel wollen und alles gleichzeitig, ein Gehäuse für das Verlangen nach Geborgenheitsgefühlen neben der Sucht nach Fremde zwischen zwei Wimpernschlägen.

Wir sind Anfang Zwanzig, unterhalten uns an langen Mensatischen in kurzen Mittagspausen zwischen Vorlesungen, Arbeitsgemeinschaften, Bibliotheksaufenthalten über ziegelgroßen Kommentaren und Kompendien sogar über Kinder. Ab und an, halbernst, Lebensentwürfe zwischen undefinierbarer Kartoffelsuppe und Großküchenpudding.

Schreibtischnotizen, Kontaktdaten der Sekretariate anderer Universitäten, weltweite Bewerbungsfristen - der Plan B auf Klebezetteln in greifbarer Nähe, aber man hat sich doch eingerichtet in der ersten Wahlheimat. Sprachkurse belegen für die vorderen Listenplätze im Erasmus-Programm, Auslandssemester gehören mindestens zum guten Ton. Wir sind angestrengt damit beschäftigt, uns zu individualisieren, das Selbst möglichst heftig zu erfahren. Während die einen auf Ritalin in der Bibliothek zum großen Wurf ansetzen, dem vermeintlichen Befreiungsschlag, diskutieren die anderen über Spießigkeit mit dem einzigen Ausweg: weg von hier, wohin auch immer die einzige Maxime, kafkaesk. Wir sind für alles zu haben, nur nicht für Mittelwege. Das Wort enthält zuviel Durchschnitt, daher beschränken wir die Auswahlkriterien für unsere Entwürfe auf die Stromlinie und deren radikales Gegenteil. Um dem kleinkarierten Jungspießer-Ehrgeiz zu entkommen begeben wir uns auf eine gehetzte Suche nach Umwegen, die Menschwerdung findet gerade woanders statt. Wir taufen das Modell kreative Lebensart und wollen sie dabei so dringend, die Tuchfühlung mit der Popkultur. Vier Wände in schwarzweiß, noch zu früh, um zur Ruhe zu kommen und Bilder aufzuhängen. Studium bedeutet Freiheit, für die wir uns jederzeit mit Post-Its und Hinterkopfgedanken bereitzuhalten meinen.

Eine Verschiebung von Begriffen mit weitreichenden Folgen - die Zeiten sind vorbei, in denen man ohne den Geschmack der Welt zwischen den Zähnen in Trier oder Marburg studieren konnte. Orts- und Studienwechsel, Nebentätigkeiten im politischen, kulturellen, sozialen Spektrum für eine Persönlichkeitsentfaltung auf Spitzenniveau - es kommt nicht ungelegen, im Vorbeigehen ein paar Softskills für den Lebenslauf abzugreifen. Wir haben den Individualismus angepasst.

Ich frage mich, wann uns zuletzt an den langen Mensatischen Gedanken darüber kamen, was wir wollen und wo sich unser Wollen und der sprunghafte Tatendrang berühren. Wann wir zuletzt etwas zum Selbstzweck getan haben. Oder ob wir verlernt haben, zu wollen, weil wir glauben nicht zu müssen, da wir frei zu sein wünschen und die Pläne B und C ohnehin dazu dienen, uns selbst und unseren Willen erst kennenzulernen. Wir werden bequem in der Unverbindlichkeit, die uns in warme Wolldecken hüllt und in den Schlaf wiegt, indifferent wo wir aufwachen doch das Alte vermissend.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

personalie

Darf ich vorstellen: Peggy Parnass. Die eigenwilligste Grande Dame des Journalismus, mit der ich, nicht aus Versehen aber doch zufällig am vergangenen Wochenende zum ersten Mal tatsächlich in Berührung kam. Man hatte mir ein Buch mitgebracht von ihr, Prozesse, in neuester, nun alles enthaltender Ausgabe.

Der Name ist mir schon vorher begegnet, vor anderthalb Jahren, kurz vor dem Abitur, als ich mit meiner Studienwahl haderte. "Jura passt zu dir" haben damals einige gesagt, das sei auch nicht trocken, und wenn mir die klassischen Berufsbilder zu eintönig seien, "dann mach doch sowas wie Peggy Parnass, Gerichtsreporterin." Jaja habe ich gedacht, Gerichtsreporterin, klingt gut, vielleicht werde ich auch Chefredakteurin der Zeit - bei Jura bin ich letzten Endes geblieben.

Die Karriere meines oktroyierten Vorbilds hingegen findet den einzigen Überschneidungspunkt mit der Rechtswissenschaft im Gerichtssaal. Ihre Eltern, Vater Simon Pudl Parnass und Mutter Hertha Parnass fielen den Nazis im Vernichtungslager Treblinka zum Opfer, Peggy verbrachte den Großteil ihrer Kindheit in 12 verschiedenen Pflegefamilien in Schweden. Mit 14 begann sie sich selbst zu ernähren, schrieb Kolumnen, jobbte als Sprachlehrerin und übersetzte für die Kripo. Sie arbeitete als Schauspielerin in Film und Fernsehen und begann 1970, für die Zeitschrift konkret, Gerichtsreportagen zu verfassen.

Sie selbst erzählt in einem Interview der taz, dass sie sich vorher schon mit JournalistInnen in Verbindung gesetzt hatte, damit sie weniger gleichgültig über die NS-Prozesse schrieben. Später machte sie sich selbst zum radikalen Gegenentwurf. Sie konnte es beispielsweise nicht ertragen, dass Souhaila Andrawes, eine zum Tatzeitpunkt neunzehnjährige Palästinenserin, deren körperlicher und seelischer Zustand vor Gericht an Vernehmungsunfähigkeit grenzt, für ihre Beteiligung an der Landshut-Entführung zu 12 Jahren wegen Mordes einwandert, während man alte Nazis beinahe schon laufen ließ, weil sie kränkelten. Andrawes hat kein Menschenleben auf dem Gewissen (mehr zum Prozess hier in einem Bericht der Zeit).

Ihre Reportagen sind schonungslos und persönlich, unglaublich nah und sezierend. Das ist ihr oft vorgeworfen worden, mindestens so oft wie man sie dafür bewundert und ausgezeichnet hat. 2008 ist sie mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden. Sie fühlte sich nicht recht wohl dabei, hatte man doch auch schon manchen SS-Offizier mit ebendiesem Blechschild dekoriert. Freunde überzeugten sie schließlich, dass sich die Zeiten geändert hätten, nachdem sie 2007 bereits einmal abgelehnt hatte, nahm sie die Ehrung doch in Empfang.

Seit dem Wochenende ist sie für mich keine Unbekannte mehr, kein Name, von dem mir jemand vorschwärmt, Bekannte, die es gut gemeint haben mit mir. Ich lese in ihren Prozessen und lasse mir Kindsmörder vorstellen, Kleinkriminelle und große Fische, distanzlose Porträts die bewegen, oft schockieren. Nicht selten lässt mich allein Parnass' persönliche Beschreibung der Situation im Gerichtssaal nachdenken über Großes, Gerechtigkeit, Justiz und menschliche Abgründe.


Bild: amazon.de

Freitag, 9. Oktober 2009

wochenendgedanken

es ist Freitag. Eine weitere Woche mit dem üblichen Pensum an Informationskonsum im Internet ist eben dabei, an mir vorbeizuziehen. Einige Dinge sind hängengeblieben, widerstreitende Debatten in meinem Kopf neben personal entertainment. Man liest viel in letzter Zeit, in den vergangenen Wochen und Monaten, bald Jahren, über das Massensterben von Tageszeitungen, wegbrechende Anzeigenkunden und die Suche der Schuldigen im Internet - ich trage maßgeblich dazu bei.

Dass es auch anders gehen kann zeigt dieser Artikel bei dasmagazin.ch: Tageszeitungen sind keineswegs todgeweiht, sie müssen sich nur dem veränderten Konsumverhalten ihrer informationsgierigen Käufer anpassen. Der Text nennt drei Beispiele aus Holland, Schweden und Portugal, die zeigen, dass man sich mit ein paar wichtigen Neuerungen durchaus den maßgeblich durch das Internet veränderten Begebenheiten anpassen kann: Grundvoraussetzung ist zunächst, dass man von der Informiertheit des Käufers ausgeht, die er ja bereits im Internet erworben hat, um darauf aufbauend die wichtigsten Meinungen zum jeweiligen Thema zu liefern. Die These lautet, dass das Netz die gewünschten Informationen zwar in ihrer gesamten Breite und zudem am schnellsten liefert, die Tageszeitungen diese jedoch nach Verlässlichkeit und Relevanz zu filtern in der Lage sind. Und relevante Informationen mit möglichst hohem Wahrheitsgehalt, das wollen wir ja alle.

Ein weiteres Problem der Tageszeitung und deren Online-Auftritten: Man hätte gern, dass User die Tageszeitung auch im Netz von vorne nach hinten "durchblättern" - man hält also auch online weitgehend an der Gliederung in Ressorts fest. Mario Sixtus erklärt hierzu in einem anschaulichen Clip zur Zukunft des Journalismus beim elektrischen Reporter, dass ebendies nicht der Fall ist. Vielmehr gelangen viele über Seiteneingänge zum gewünschten Artikel: Verlinkungen von überallher aus den Tiefen des web 2.0. Wie aber können die Zeitungen, deren Werbeeinnahmen im Internet nicht annähernd mit denen von einst vergleichbar sind, in Zukunft noch ihrer für die Demokratie zentralen Aufgabe, der kritischen Reflexion des politischen Geschehens für die breite Masse, noch nachkommen? Auch hierzu werden im Video ein paar grundsätzliche Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung erst recht nicht aus dem Stehgreif erfolgen kann.

Wer aber soll das eigentlich sein, der oder die durchschnittliche InformationskonsumentIn im Internet? Noch gibt es keine verlässlichen Zahlen über die Anzahl der Twitter-NutzerInnen in Deutschland, die Angaben schwanken zwischen fünfzig- und hundertzwanzigtausend. Zieht man diejenigen ab, die Twitter lediglich als Werbeinstrument benutzen, so bleibt nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung übrig - der schätzungsweise überwiegend aus TeilnehmerInnen mit publizistischen Interessen besteht (für den Freundes- und Bekanntenkreis bestimmte Veröffentlichungen mal ausgenommen). Meine Generation, die eigentlich weitestgehend mit dem Internet aufgewachsen sein sollte, nutzt dieses zunächst lediglich als Kommunikationsmedium. Twitter als hauptsächlichen Indikator für die Bereitschaft zu einer breiteren Webnutzung zu missbrauchen wäre sicherlich vermessen, aber es bietet sich hier zumindest ein Anhaltspunkt.

Meine KommilitonInnen posten Urlaubsfotos auf Facebook, hören Musik bei Youtube und checken ihre Mails, ein mittlerweile alltäglicher Betrieb im social web - dabei bleiben die viel weiter reichenden Kapazitäten des Internets größtenteils ungenutzt. Das Netz als Arbeitsplatz, Markt für Informationen jeglichen Genres sowie zum Echtzeit-Austausch im Mikroblogformat ist auch unter StudentInnen noch lange nicht mehrheitsfähig. Vielen genügt allein die Möglichkeit, eine Zeitung ebensogut online lesen zu können, ob dies in vergleichbarem Maße praktiziert wird, steht auf einem anderen Blatt.

Für mich ist das Internet schon lange Teil meiner realen Welt, an der wiederum das Netz via Twitter, Blog und Facebook teilhat. Mein Blog ist das geliebte virtuelle Kind, an dem ich selbst wachse, mein Projekt, das Energie und Zeit und Liebe für sich beansprucht.

Meine Woche im Netz hat ein paar feine Informationshappen für mich bereitgehalten. Mit einer Zusammenfassung meiner Link-Top-5 verabschiede ich mich ins Wochenende. Ich werde 20. Zeit für ein bisschen Offline-Feiern.

+ Hilfe, die Prinzessinnen kommen - die Mädchenmannschaft über geschlechtsspezifische Schulbücher
+ Armer Mann, was nun? - die Zeit Online über Hetero-Beziehungen, in denen die Frau mehr verdient (ja, Abhängigkeit macht unglücklich - Frauen und Männer offensichtlich auch)
+ Justitias Augenbinde verrutscht - Rechtsphilosoph Bertram Keller beim Freitag über Anonymität und Selbstbestimmung
+ ART. Entdeckung der Woche: herakut
+ nicht zuletzt: die Meldung des Tages. Barack Obama erhält den Friedensnobelpreis. Einen unter vielen lesenswerten Kommentaren dazu gibt's bei Spiegel Online

Mittwoch, 7. Oktober 2009

laufen lernen


thoughts on Brigitte's turning away from professional models


Die Durchschnittsleserin der Brigitte ist 48 Jahre alt und 23% schwerer als die abgelichteten Models, die Auflage sinkt, die Chefredaktion um Andreas Lebert tüftelt, wie man die Verkäufe ankurbeln kann und kommt auf eine geniale, wenn auch nicht unbedingt neue Idee: den Verzicht auf professionelle sogenannte Magermodels zugunsten von "echten Frauen".

Es bleibt zunächst festzustellen: der anhaltende Trend zu knochigen Frauen auf dem Laufsteg ist ein Problem, sowohl in der Modelbranche (wie etwa das Beispiel des jetzigen Plus-Size-Models Crystal Renn erschreckend anschaulich zeigt) als auch für heranwachsende Mädchen, denen ein bizarres Schönheitsideal präsentiert wird und früh zu Identifikationsproblemen führt, die schlimmstenfalls ihr Ende in einer handfesten Anorexie finden.


Für einen gesunden Umgang mit dem eigenen Körper, für mehr weibliche Selbstzufriedenheit und zur Bekämpfung eines einseitig verzerrten weiblichen Schönheitsideals ist die Entscheidung der Brigitte, von nun an auf magere Mädchen zu verzichten grundlegend und wichtig; erst bei der Umsetzung wird dieses hehre Projekt jedoch wirklich interessant. Jeanie Chung etwa fragt sich bei salon.com, wie die Brigitte "normale Frauen" abbilden will und wer das überhaupt sein soll. Andreas Lebert denkt dabei beispielsweise an Angela Merkel, Steffi Graf und Ursula von der Leyen - weiße, erfolgreiche Frauen mittleren Alters also. Das auch solche Vorschläge nicht dazu geeignet sind, weiblichem Facettenreichtum ein Forum zu bieten liegt ebenso auf der Hand wie sich die Vermutung erhärtet, dass man in Hamburg nicht die Frauenwelt verbessern, sondern in erster Linie die Verkaufszahlen ankurbeln will. Denn Frauen wie Merkel und von der Leyen sind eher in der Lage, für den betagten Teil der Leserinnen eine Art Ideal zu verkörpern - dabei wollte man doch eben keine Idealvorstellung bieten, sondern Frauen wie du und ich? Vielfältige Schönheit, Charakter, Individualität? Die beiden Politikerinnen entsprechen zwar keinem gängigen Schönheitsbild, haben dafür aber ein Maximum an Macht und Karriere vorzuweisen - und Steffi Graf einen durchtrainierten Sportlerinnenkörper und nebenbei eine Model-Vergangenheit. Man dreht sich im Kreis in der Redaktion.

Was vor allem aus marktpolitischen Erwägungen für die Brigitte von Nutzen sein kann, gilt zudem noch lange nicht für die anderen. Pubertierenden Mädchen, vollauf mit der eigenen Entfaltung beschäftigt, wird es nicht helfen, wenn eine Zeitschrift, die im Altersdurchschnitt deutlich über der eigenen Zielgruppe liegt, Vielfalt ab vierzig präsentiert. Und die Süddeutsche titelt indessen "Es bleibt ein Knochenjob", denn: führende Modemagazine wie die Vogue Deutschland, Instyle und Cosmopolitan winken bereits dankend ab. Zurück bleibt ein weiteres tragisches Fazit der Anti-Magermodel-Kampagne: weder die zerbrechliche Welt eines nach Identifikation suchenden Teenagers noch die Welt der Models wird von der Brigitte berührt.

Dabei ist die Idee an sich wundervoll und das nicht erst seit gestern: Beispiele sind der Vorstoß von Alexandra Shulman, Chefredakterin der britischen Vogue, die führende Designer anklagte, die Magazine zur Wahl von Models mit hervorstehenden Knochen zu zwingen oder die Verbannung von zu dünnen Models bei der Fashionweek in Madrid 2006. Die Brigitte hofft nun offenbar, auf den fahrenden Zug aufspringen zu können und möglichst dabei einen Meilenstein zu setzen, der die Auflage in die Höhe treibt. Es ist zu befürchten, dass in diesem Zug noch nicht ausreichend namhafte Fahrgäste sitzen, die Fahrt unwirtschaftlich wird, weil keiner mehr einsteigen will - es braucht mehr als eine (wenn auch zumindest in Deutschland einflussreiche) Zeitschrift für Frauen mittleren Alters, um dem betrachtenden Auge individuelle Schönheit und Charakter zurückzugeben.

Die größte Hürde wird es jedoch sein, sich von zwanghaften Vorstellungen einer Norm zu lösen. Andreas Lebert will alle Kleidergrößen zeigen, alles sei erlaubt. Dabei ist der Kampfbegriff "Magermodels" ebenso hinderlich wie das zementierte Frauenbild der Modeindustrie. Ehe wir blinzeln hat sich es sich ein neues Vorurteil hübsch zurechtgemacht: die Dünnen sind schuld. Die wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Essstörungen aller Art ist angebracht und doch bigott: schleichend wird jede Kundin der Größe-34-Abteilung zum potentiellen Opfer einer Selbstwahrnehmungsstörung. Ziel sein muss, dass tatsächlich alles erlaubt ist: große Brüste, kleine Brüste, dünne und dicke Frauen mit oder ohne fulminante Rundungen, Falten, Alltag und das feine brilliante Detail in jeder Einzelnen von uns.

Montag, 5. Oktober 2009

artsy monday

noch immer zehre ich von den Eindrücken aus drei Tagen Hamburg. Vergangene Woche, bei meinem Trip zum Reeperbahnfestival, habe ich die Zeit maßgeblich genutzt, um ausgiebig Kaffee zu trinken und abends auf dem Kiez Musik und Atmosphäre zu konsumieren. Während ich mir einen ordentlichen touristy harbour boat trip geschenkt habe, konnte ich mit etwas mehr Zeit einen Ausflug ins Haus der Photographie // Deichtorhallen auf mich wirken lassen. Die derzeitige Veto-Ausstellung mit dem Untertitel Zeitgenössische Positionen in der deutschen Fotografie hinterlässt unweigerlich Spuren; die Denkprozesse des Alltags sind komplex und nicht selten verworren, es fühlt sich also jedes Mal neu und gut an, vor Fotografien und Bildserien zu stehen, dazu gezwungen, sehend zu verarbeiten. Der Pressetext zur Ausstellung bietet zum Einstieg eine gute Zusammenfassung dessen, was es denn zu sehen gibt:

Seit der Erfindung im frühen 19. Jahrhundert gilt die Fotografie als Spiegel der Wirklichkeit. Aber nicht erst mit dem Aufkommen der digitalen Bildbearbeitung und ihren Möglichkeiten der Manipulation wurde dieser Anspruch radikal infrage gestellt. Acht künstlerische Positionen jenseits der Wirklichkeitstreue der Fotografie stellt die Ausstellung „VETO – Zeitgenössische Positionen in der deutschen Fotografie“ vom 4. September bis 15. November 2009 im Haus der Photographie in den Deichtorhallen vor.

[...]


Gemeinsam ist den für VETO ausgewählten fotografischen Positionen, dass sie offen angelegt sind, mit multiplen Perspektiven spielen, die den Betrachter zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Medium herausfordern. Digitale Konstruktionen, Bezüge zur Zeichnung, Filmbild oder Malerei sowie die Verbindung neuer und alter Techniken sind künstlerische Strategien, mit denen sich die Fotokünstler gegen die Vorstellungen einer schnell erfassbaren (Medien-)Bilderwelt stellen. Das Bild hat keinen Belegcharakter mehr für das Reale, sondern formuliert seinen Glauben an das Kunstwerk als ästhetisches Objekt mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten.


Insgesamt neun Künstlerinnen und Künstler, darunter Andreas Gefeller, Beate Gütschow, Natalie Ital und Andrea Sunder-Plassmann zeigen durch individuelle Ansätze und Techniken in einer von digital Geknipstem beinahe vollständig durchfluteten Bilderlandschaft, dass es sich lohnt, stehenzubleiben, die Welt anzuhalten und sich die sichtbaren und unsichtbaren Linien des Bildes zu durchdringen.

Natalie Ital, aus der Serie Bio Box Burger, Fotogramm (2005)


Andrea Sunder-Plassmann, aus der Serie Selbst, Plattenkamerafotografie (1986)

Zwischen den Bildern ein weißer Raum, Ruhe, entfernte, leise und bedächtige Schritte, die Abwesenheit von Zeitanzeigen, maximale Wirkung der Kunst auf das betrachtende Auge. Keine der Fotografien wäre nur halb so gut an der heimischen Wohnzimmerwand. Manche Eindrücke kann ich nur in Gedanken konservieren.

Bilder: arttattler.com

Donnerstag, 1. Oktober 2009

im spagat glänzen

"Man muss sich nicht entschuldigen, weil man seine Seele besitzen will" schreibt Erica Jong in Angst vorm Fliegen, dem feministischen Klassiker aus den 70ern, eine weibliche Maxime, die auch in Maria Sevelands Bitterfotze noch 2009 kein Stück ihrer erhabenen Würde und der darin liegenden Zerbrechlichkeit eingebüßt hat.

Auf der Rückfahrt von Hamburg habe ich begonnen, Bitterfotze zu lesen, während am Fenster windige Landschaften und graue Vorstadtbahnhöfe unter einem bedeckten Himmel mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeiziehen , der Mann hat neben mir die Beine übereinandergeschlagen, sein Knie liegt auf meinem Oberschenkel.

Sara, die Protagonistin, entflieht dem dunklen Stockholm im Januar für eine Woche um allein nach Teneriffa zu fliegen. Allein - obwohl sie einen zweijährigen Sohn und einen Mann zu Hause hat. Diese Tatsache bringt mich nicht ins Grübeln, wohl aber ihr Umfeld, alle reisen mindestens zu zweit, Pärchen und Kleinfamilien so weit ihr Auge reicht, im Flieger, im Bus zum Hotel, im Frühstücksraum. Eine Frau allein in dieser urlaubsbedingten Harmoniehölle ist ein Novum, und wie sie nur ihr Kind allein lassen kann, dieser zügellose Egoismus. Das Buch spielt, wie gesagt, 2009, die Autorin lebt in Schweden, einem als politisch fortschrittlich empfundenen Land (man sehe sich nur die hervorragenden Pisa-Ergebnisse an) und findet offenbar, dass sie auch hier und heute als Frau noch unzählige Gründe hat, bitterfotzig zu sein - obwohl sie das gar nicht will, nie wollte. Das Buch führt mir wie eine Ohrfeige vor Augen wie schwer es noch immer ist, in Europa und erst recht sonstwo auf der Welt, nach einer Schwangerschaft nicht zum Muttertier zu mutieren, stark zu sein, berufstätig zu sein, unabhängig zu leben.

Maria Sveland hat ihrem Buch diesen unglaublich destruktiven Titel gegeben, damit es kein anderer tut, ich kann nur sagen: gut gemacht. Keine Frau will bitterfotzig sein, aber es will auch keine Gründe dafür haben. Die Autorin hat mit der Wahl dieses Buchtitels KritikerInnen der Möglichkeit beraubt, sie selbst als Bitterfotze abzustempeln und gleichzeitig die Chance wunderbar genutzt um zu zeigen, wie viele Hoffnungen, Träume, Freiheit und Lebensklugheit in einer Feministin stecken können. Unsere Zeit zerrinnt für Frauen zwischen Emanzipation, vielgepriesener und manchmal gelebter Unabhängigkeit, auf der anderen Seite die schwer verdaulichen Fakten, Webseiten, Verhaltensweisen, gesellschaftlichen Normen und Zwängen, welche Kehrseiten erahnen lassen. Vor kurzem interviewte die Zeit Online den Soziologen Carsten Wippermann zu seiner Studie über Frauen in Führungspositionen. Die Ergebnisse führen einem unweigerlich vor Augen, dass es sich bei der Gläsernen Decke nicht um einen hohlen Kampfbegriff, sondern um gelebte Berufsrealität handelt. Aus verschiedensten Motiven bleibt der Weg für Frauen in die Machtetagen von Konzernen hart und oftmals gänzlich versperrt (mehr dazu hier) - eines von vielen Hindernissen, die eine Frau noch heute überwinden muss, sofern sie die Kraft und den Willen dazu hat.

Im Buch begegnet Sara, mit ihrem Sohn im Park unterwegs, einem Vater mit Kinderwagen und einem Shirt mit der Aufschrift Vaterurlaub. Er hat es von der Krankenkasse geschenkt bekommen und Sara fragt sich, warum Männer T-Shirts kriegen für das, was für die Mütter eine Selbstverständlichkeit ist, die zum Himmel stinkt. Ich schaue auf und sehe das Profil des Mannes, der ohne T-Shirt Kinderwägen schieben wird.

Sara hat früh begonnen, sich mit Feminismus zu beschäftigen, hatte Spaß daran, als Studentin zügellos Männer aufzureißen, ohne Anklang zu erwarten, wohlwissend, welche Provokation eine erobernde Frau darstellen kann. Sie entscheidet sich für den, der nicht wegläuft, als sie ihn fragt, ob er "einen harten pochenden" habe, der sich stattdessen mit ihr im Bett verkriecht, so lange bis absolut nichts mehr zu Essen im Haus ist. Derselbe Mann, der sie Jahre später nach der Geburt wochenlang mit dem Kind allein lässt, weil er arbeiten muss. Weil er einen Vertrag unterschrieben hat, lange vorher.

Und heiraten. Sara heiratet und freut sich und ist verliebt und fühlt sich fremd dabei. Es ist die Sehnsucht nach Nähe, nach einem Menschen der beständig an ihrer Seite ist, vielleicht auch nach kleinen jungen Kinderleben, in deren Adern das eigene Blut fließt.

Bitterfotze
hat ein heteronormatives Ende. Während Isadoras Eheschicksal in Angst vorm Fliegen offen bleibt, stellt Sara am letzten Urlaubstag fest, dass sie schwanger ist und fliegt zurück nach Hause mit dem Willen weiterzukämpfen für Unabhängigkeit und Liebe, Geborgenheit und Freiheit, alles gleichzeitig, maximales Glück, fast unerreichbar - aber nur fast.

Ich lese und frage mich, in ein paar Tagen noch immer zarte 20 Jahre alt, wie ich stets so überzeugt, so unzerrüttet glauben konnte, dass alles, das maximale Glück, einfach so eintreten, für mich funktionieren würde. Im Hinterkopf zu behalten, dass es möglicherweise nicht leicht gelingen kann, eines Tages eine freie Mutter zu sein, ist etwas anderes, als diese Ohrfeige auf einem grellpinken Tablett serviert zu bekommen. Einhalten und nachdenken, mit 20, bevor die Dinge entgleiten und ich mich womöglich frustriert und abhängig, in 24 Stunden eines Tages gebunden wiederfinde. Und ich stelle fest, dass ich trotzdem alles will, mehr denn je und ohne mich jemals dafür entschuldigen zu müssen, dass ich meine Seele besitzen will. Und einmal mehr bin ich mir bewusst, wie gut sie tun, all die Männer, die mit uns auf Augenhöhe leben, zusammenarbeiten und klar denken. Der Feminismus lebt mit ihnen und kann nicht ohne sie, um an das Ziel einer Gleichberechtigung zu gelangen, die ihren Titel verdient, unerreichbar ohne beiderseitige Akzeptanz und Respekt und nicht zuletzt Liebe, platonisch oder sexuell oder beides gleichzeitig, Augenhöhe als Maßstab.

Wir sind jung und wollen viel, Bildung und Beruf und die Feinheiten des Lebens in vollen Zügen genießen, Zeit um ungestört Gedanken nachzuhängen, Bücher zu lesen, flach auf dem Boden liegen und Musik hören, zur selben Zeit geborgen sein, einen Menschen bei uns haben, dessen Hand wir halten können wann immer wir wollen, gemeinsame Stunden, Tage, Wochen verbringen, die Welt sehen und zurückkehren und allein sein mit einer Tasse Tee. Der Spagat zwischen Freiheit und Geborgenheit scheint schwer, beinahe unerreicht und doch möglich, wenn man sich früh genug und schonungslos darüber klar wird, was es bedeutet, ich zu sein. Mit allen Träumen und Wünschen, Wahr- und Eigenheiten.

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