Freitag, 20. November 2009

Liebe Besetzerinnen und Besetzer,

ihr fragt euch manchmal, in den besetzten Hörsäälen, euren Freiräumen, warum so viele vorbeigehen - trotz unübersehbarer Plakate eures Alternativprogramms, Umsonst-Kaffee und dem Hauptargument, dass es ihr nicht gutgeht, der freien Bildung. Warum so viele KommilitonInnen ignorant an der Freiheit vorbei in die Vorlesung strömen und danach statt zu euch in die Mensa, zum Lernen in die Bibliothek oder nach Hause.

Hier in Heidelberg habt ihr euch einen kleinen Kosmos geschaffen im Hörsaal 14, Freiheit, Kaffee und Kuchen für alle, wenn denn nur alle kämen. Man hat mir erzählt die anderen wären vielleicht zu resigniert oder hätten Angst vor gesellschaftlichen Konsequenzen, das Hausrecht liege nunmal nicht in eurer Hand.

Die anderen sind zum Beispiel ich, als Studentin und Bloggerin. Warum ich dieses Mal nicht zur Besetzerin wurde hat mehr Gründe als die Schwarzweißmalerei über Spießer und Revoluzzer. Ihr tretet ein für Ideale, die für sich betrachtet von einer überwältigenden Mehrheit der Studierenden Zustimmung finden. Eine Reform des Bologna-Prozesses wird mittlerweile auch von der Politik zu Recht als notwendig betrachtet, die soziale Selektion durch Studiengebühren hält außer vereinzelten Rechtskonservativen auch niemand mehr für eine gute Idee, ebenso das Ziel, mehr studentische Mitbestimmung an der Uni durchzusetzen, genießt vor Ort weitestgehend Beifall.

Das erste Problem: die endlosen Listen eurer Forderungen wirken planlos und spiegeln das wieder, was sie sind - der Kompromiss eines Plenums, in dem niemals mehr als ein Minimalkonsens zustande kommt, da das Veto einer einzigen Person jegliche Vorhaben zum Scheitern bringen kann.

Die aktuellen Proteste haben noch keinen neuen Rudi Dutschke hervorgebracht, die Vertretung nach außen wirkt verwirrt und stets darauf bedacht, nichts zu äußern, was nicht vorher im Plenum abgesegnet wurde. Ihr habt Angst vor einer Spaltung sofern ihr eure Vorgehensweisen nicht einstimmig beschlossen habt. Dabei hält die lauwarme Konsenssoße vermutlich mehr Leute davon ab, überhaupt teilzunehmen als eine Spaltung je drohte. Für einen neuen Rudi Dutschke ist kein Platz in euren Plenarsitzungen, er würde auf den unteren Plätzen der Rednerlisten herumdümpeln und den Saal verlassen, bevor er eines Tages zu Wort käme. Dafür ist das Plenum weiter friedlich und geordnet, tumultartige Szenen, die Würze, wird man vermissen.

Kindliche Naivität tropft herab von euren Plakaten zum Vortrag über regulierte Anarchie in Afrika und wie man sich daran ein Beispiel für die politische Situation vor Ort in Heidelberg, in Deutschland nehmen könnte. Anarchie ist offenbar seit den Siebzigern immernoch machbar, Herr Nachbar. Ich bin zu sehr mit dem Pragmatismus der Jetzt-Epoche verhaftet, um an die Träume vergangener Jugendzeiten glauben zu können.

Doch vielleicht sollten mich anarchistische Spinnereien weniger geringschätzig sein lassen als das Kaffee-Chaos in friedliebender süddeutscher Gemütlichkeit. Immerhin ein Häppchen politischen Inputs zwischen nervenaufreibenden Debatten um Alltäglichkeiten. Die Besetzung von Universitäten in ganz Deutschland hat dem Streit um die Bologna-Reform neuen Brennstoff gegeben, knapp einhunderttausend SchülerInnen, StudentInnen und sonstwie an Bildung Interessierte waren diese Woche auf der Straße, um sich einzusetzen. Eine großartige Leistung, die ich ebensowenig geringschätze. Veränderung im Bildungssystem ist dringend notwendig und Genugtuung angebracht im Angesicht der grauen Politprominenz, die sich einst auf den Weg nach Italien machte, um der guten Reputation deutscher Hochschulabschlüsse den Kampf anzusagen.

Viele von uns stammen aus Elternhäusern, in denen Protest zum guten Ton gehört. Der CDU-nahe Studentenbund RCDS, der bisher als einziger den Bildungsstreik offen verurteilt, kann unter den Studierenden nur eine kleine Gemeinde unverbesserlich rückständiger Anhänger um sich versammeln. Die anderen sind nicht etwa abwesend, um sich von früheren Generationen abzugrenzen - sie sind der Diskussionen darum, ob man nun mit Idealen oder realistischen Forderungen an öffentliche Stellen herantreten will oder ob eine bestimmte Grußformel an den Rektor nun zu provokativ ist oder nicht, des Plenierens also, müde. Der Protest, die Besetzungen, die Demonstrationen an sich sind nicht zu verurteilen sondern eine natürliche und überfällige Reaktion des Bulimie-Lernens als ständiges Begleitsymptom eines Bachelorstudiengangs. Wir alle sind auf der Suche nach identifikationsfähigen Idealen, nach etwas, für das es sich heute lohnt, sich einzusetzen. Wir werden sie bei euch nicht finden, da ihr selbst nicht in der Lage seid, zwischen Systemspinnereien und Forderungen für den pragmatischen Uni-Alltag zu differenzieren. Es sieht aus, als streikte man für hehre Ziele und Biobrötchen in der Studi-Cafeteria.

Liebe Besetzerinnen und Besetzer, ich werde jederzeit wieder demonstrieren, für unabhängige und freie Bildung, die diesen Titel verdient. Ich werde jedoch nicht die Rednerlisten von hinten aufrollen um euch zu erzählen, dass Basisdemokratie noch keinem wehgetan hat. Und dass Vorträge über Anarchie in Afrika nicht über die eigene politische Trägheit hinwegtäuschen können. Vielleicht sehen wir uns wieder, beim nächsten Mal.

9 Kommentare:

  1. Du sprichst mir aus dem Herzen! =)

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  2. Vielleicht gibt es noch einen Grund für die mangelnde Teilnahme am Bildungsstreik (zumindest in meiner Generation schien es mir so): das Gefühl, dass Bildungsstreik und Unibesetzung zu einem leeren Ritual politischen Aktionismus verkommen sind. Seit dem ersten großen Unistreik (ich glaube 1997) wird mit schöner Regelmäßigkeit jedes Sommersemester gestreikt und demonstriert. (Ich gebe zu, ich war überrascht, dass es diesmal ein Wintersemester ist.) Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es nur vordergründig um Bildungspolitik, in Wahrheit aber darum geht, zu beweisen, dass man genauso aktiv, engagiert und politisch ist wie die Vorgängergeneration.

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  3. Du argumentierst aus der Distanz, Du projizierst das was in Deine "self-fulfilling-prophecy" passt. Du redest vom Du und "ihr".
    Warum und wie kam es zur Debatte über Bologna? Durch wohlfeil ausgearbeitete Forderungen oder durch öffentliche Aktionen wie Besetzungen?
    Statt den Prozess, der angestoßen wurde, mit zu gestalten und Deine Kritik an den Aktionen selbst einzubringen, trinkst Du lieber Cappuccino und lamentierst über die anderen, die alles angeblich ganz schwammig und fundamentalkritisch wollen. Statt eigene Veranstaltungen anzubieten, in die ForderungsAG zu gehen oder Plakate aufzuhängen, stempelst Du ab. Dass die Leute einfach Unterstützung wollen und brauchen, verdrängst Du und machst organisatorische Mängel vor Ort zu angeblich gewollten politischen Strategien. Dadurch wird der von Dir unterstützte Protest genau zu dem, was Du verhindern willst.
    Vielleicht gefällt Dir das kritisieren aus dem Cafe heraus doch mehr als das anstrengendere Selbermachen ?!

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  4. Hej Michael,

    habe ich mir gedacht, dass mein letzter Artikel dich nicht zu Begeisterungsstürmen vom Sessel fegt. Ich verstehe und respektiere deine Enttäuschung, andererseits stehe ich voll und ganz hinter dem, was ich schreibe. Wovon du sicher ausgehst, sonst hättest du dir nicht so viel Mühe gegeben, zu erklären und zu kritisieren. Ich danke dir für deine Offenheit, lass mich auch offen sein.

    Ich weiß, du bist enttäuscht, weil ich nicht dazu auffordere, die Besetzung zu unterstützen, sondern erkläre, warum ich selbst kein Teil davon bin und damit im Ergebnis in etwa das Gegenteil erreiche. Ebenso wie in meinem Artikel deutlich wird, dass ich die Besetzung an sich keineswegs verurteile, wird auch deutlich, dass ich stets einen mir eigenen Standpunkt vertrete und alles prinzipiell hinterfrage und nicht einfach mitmache wie manche, weil ENDLICH mal wieder Protest ist.

    Ich unterstütze einen Großteil der Forderungen des Bildungsstreiks und ja: ich verfolge andere Interessen mit meinem Post als Kommt-alle-hin-da-geht-was. Denn ich bin selbst nicht bereit, "eure Rednerlisten von hinten aufzurollen", ich habe es im Sommer ein-zwei Mal versucht und habe nicht mehr die Lust und nicht mehr die Energie dazu. Ich will das nicht pauschalisieren, aber habt "ihr" denn eure Plenarstrukturen schonmal ernsthaft hinterfragt? Momentan bin ich einfach nicht der Ansicht, dass man so wirklich produktiv arbeiten kann und etwas auf die Beine stellt, das etwas wie Überzeugungskraft besitzt.

    Das ist nur ein Randbeispiel, aber den Vortrag über Anarchie in Afrika fand ich wirklich unglaublich naiv, das mag sich hart anhören, aber mit solchen Veranstaltungen wird die Besetzung nicht gerade glaubwürdiger und schreckt wahrscheinlich sogar noch mehr Leute ab als das viel zu sehr mit Kleinigkeiten beschäftigte Plenum.

    Außerdem bin ich aus publizistischen Aspekten vielleicht objektiver, gewissermaßen außenstehend, aber glaub mir, ich habe keine Scheu davor, live und mittendrin zu schreiben, wenn ich nur selbst davon überzeugt wäre. Vielleicht habe ich einen Café-Standpunkt, der mir aber keineswegs unangenehm ist, ich bin jederzeit bereit, etwas Gutes, etwas Großes, Ambitioniertes mitzutragen. Glaub bitte nicht, ich hätte es mir mit meinem Cappuccino bequem gemacht. Meine Zunge ist spitz und tut manchmal weh. Aber wenn ich die Besetzer_innen durch meinen Artikel dazu bringen kann, ihre Handlungsstrukturen zu überdenken und mit kraftvoller Stimme nach außen zu sprechen, dann habe ich ein Ziel erreicht. Denn es wird denke ich ebenso deutlich, dass ich euch keineswegs feindlich gesinnt bin, die Sache an sich vielmehr unterstütze, nur eben auf meine Art und Weise.

    Wenn Du bzw. Ihr, die Besetzer_innen, in der Lage seid, neben vielleicht berechtigter Enttäuschung auch diesen Punkt zu sehen, würde ich mich sehr freuen.

    Herzliche Grüße

    Eva

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  5. Hallo Eva,

    ich möchte folgende Punkte zu Bedenken geben.

    1. Die komplette Bewegung des Bildungsstreiks ist aufgrund von Plenarstrukturen zustande gekommen. Wenn sie richtig angewendet wird (was nicht immer der Fall ist), ermöglicht sie die Bündelung möglichst vieler Meinungen und Interessen und deren Ausgleich. Diese Struktur hat den Bildungsstreik groß gemacht. Dass eher hierarchische, strukurell organisierte (Vorstand, Mitgliederversammlung) etc. Formen nicht ähnlich erfolgsversprechend sind, zeigt schon, dass die Jusos/Gründe Jugend/RCDS niemals etwas ähnliches auf die Beine gestellt hat. Denn eine große Organisationsdichte schreckt auch wieder ab, da keine Meinungsvielfalt ermöglicht wird. Das ist dann eine Abwägung. Gerade mit der Plenumsstruktur ist der Bildungsstreik anders als Parteien oder Verbände und auch deshalb ist er so groß geworden. Aber auch gerade wegen der Plenumsstruktur werden wiederum lange (und teilweise ineffiziente) Arbeitsprozesse geführt, was wiederum andere abschreckt. Meine Abwägung anhand meiner Erfahrungen fällt daher für die Plenumsstruktur aus. Die Umsetzung dieser hat sich seit dem Sommer weiterentwickelt, ist aber immer noch lange nicht optimal - das hast Du recht!

    2. Aufgrund dreier Beobachtungen (Deine Erfahrung im Sommer, das Plakat "Regulierte Anarchie", ein Besucht mit Interview bei der Besetzung) analysierst und kritisierst Du die komplette Besetzung. Warst Du bei einem Plenum dieser Besetzung, hast Du versucht, Dich einzubringen, hast Du den Vortrag (der von einem Dozenten aus der Ethnologie auf wissenschaftlicher Basis und aus Solidarität mit den Protesten gehalten wurde) gehört oder nur das Plakat gelesen? Was ich damit sagen will: vielleicht hast Du nicht ganz umfassend recherchiert bzw. Dir ein umfassendes bild gemacht. Das ist auch nicht nötig, da Du ja subjektiv schreibst und das alles hier ja ein Hobby ist und kein hartes Geschäft. Ich wollte deshalb einfach meinen "Senf" dazugeben. Das dient ja alles der Meinungsvielfalt :)

    3. Meine kritische Betrachtung zeigt, dass die publizistische Distanz auch immer eine Distanz von der Realität derjenigen, über die geschrieben wird, mit sich bringt. Ein Dilemma, das wohl kaum aufzulösen ist, jedenfalls nicht bei subjektiver Kommentierung.

    Danke auf jeden Fall für die Diskussion :)

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  6. Hey Eva,
    ich stimme dir in vielen Punkten zu. Mich kotzt nur an (tschuldigung), dass ich oft der einzige bin, der so etwas ins Plenum/die Bewegung einbringt, obwohl mir klar ist, dass ich nicht der einzige bin, der dieser Meinung ist. Ich fühle mich im Stich gelassen von den unzähligen Leuten wie dir, die ihr Maul nicht aufkriegen und fühle mich verheizt. DAS enttäuscht mich!

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  7. Kann dir auch nur zustimmen,war in Leipzig auch nicht anders.

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  8. Selbiges Problem traf man auch bei der Zürcher Uni-Besetzung an, bei der ich ebenfalls mit dabei war. Ich befand mich in einer Minorität, die sagen wir mal, eher liberal gesinnt war. Der Rest bestand aus Revoluzzer-Spinnern, die die Besetzung als Podium für ihre realitätsfernes Systemideal nutzen wollten. Zumindest in den ersten Tagen war das so.

    Daraufhin lähmten diese Spinner mit ihrer Angst vor dem "System" bzw. vor dem Rektor oder den Medien jegliche Kommunikation gegen aussen hin. Die Auswüchse, die die Plenarversammlungen trugen, waren zum Teil lächerlich. Z.B. die Videoübertragung: Eine Videoübertragung in den besetzten Hörsaal wurde zwar eingerichtet, jedoch ohne Ton, da die Koalition der Popkultur-Revoluzzer fürchtete, vom Rektor bespitzelt zu werden.

    Konsequenz daraus war, dass ein Grossteil der Studierenden sich nicht mit der Besetzung identifizieren konnte. Der "linke Mief" schreckte ab. Und so versandete das Ganze. Naja.

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