Um der unübersehbar glitzernden, flackernden, penetrant nach Bratwurst, Crepe, Glühwein oder Plätzchen duftenden Vorweihnachtsharmonie zwischendurch klammheimlich zu entfliehen, könnte man sich die maximale Katastrophe an Heiligabend ausmalen. Brennende Weihnachtsbäume, verkohlte Gänse oder unsäglich schiefe und dabei so gutgemeinte O-Du-Fröhliche. Kleinere Katastrophen wie ein lächelndes Dankeschön an die Oma für den selbstgestrickten pinken Glitzerschal. Reifungsprozesse neigen dazu, von Großeltern über Jahre hinweg unbemerkt zu bleiben.
Man könnte auch zu Helmut Krausser greifen. Dessen Erzählung "Einsamkeit und Sex und Mitleid" beginnt mit einem jungen Mann, dem Heiligabend nicht danach ist, sein Alleinsein biertrinkend in einem der unzähligen Berliner Dönerläden zur Schau zu stellen. Zur Wahl bleibt der Heimweg, er lässt sich ein Bad ein und fühlt sich, nackt und bei heruntergelassenen Rollläden seltsam beobachtet. Er überwältigt eine verschreckte Einbrecherin, die hauptsächlich seinen Kühlschrank geplündert hat und plündert mit ihr die letzten Reste - eine Flasche Aldi-Nord-Champagner für verklemmte Kundschaft.
"Es hätte Lokale gegeben, wenigstens ein paar türkische Kneipen, denen Weihnachten vollkommen egal war. Vincent spürte aber wenig Lust, sich zu betrinken. Später am Abend konnten sich noch Kundinnen melden, das war an Weihnachten gar nichts Ungewöhnliches, meist zeigten die sich dann über die Maßen spendabel. Die Aussicht, auf irgendeiner Sammelstelle für melancholische Einzelgänger hinzudämmern, seine Einsamkeit zur Schau zu stellen, widerte Vincent an, und er überquerte die Straße, mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Schneeregen fiel; im Standlicht eines Autos wirkten die Flocken wie Schwärme winziger Vögel, leuchteten auf, bevor sie am Boden zerschmolzen. Das Treppenhaus roch muffig. Vincent nahm drei Stufen auf einmal."
Und da ist Ekki, der frühpensionierte Lateinlehrer, der am 24. die Barkeeperin seiner Stammkneipe für römische Kaiser begeistern kann.
Oder die Managerin Julia, die bei der Zubereitung des Weihnachtsmenüs - Sushi - beschließt, das ihr Mann ein Klotz am Bein ist und ihn ohne lange zu fackeln vor die Tür setzt.
Eine Geschichte separierter, gewollter oder unglücklicher Einzelgänger beginnt am Weihnachtsabend, verstrickt sich und wartet auf mit skurrilen Überraschungen. Es wird Mai, irgendwann, und noch später, manche bleiben einsam, manche drehen durch, manche finden sich selbst oder jemand anderen, der ihnen dabei hilft. Es ist viel Sex in diesem Buch, ein bisschen Mitleid. Und bissige Normalität, Ironie in einer zum Platzen gefüllten Harmonieseifenblase aus Glühweingeruch. Für Plätzchen bleibt zum Glück immernoch Zeit.
Montag, 7. Dezember 2009
4 Kommentare:
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Eine prima Beschreibung!
AntwortenLöschenSprachlich schöne Beschreibung... Leider bin ich ein totaler Weihnachtsmensch mit Weihnachtsmarkt, Glühwein, Muppets-Weihnachtsgeschichte und allem was dazu gehört, dass ich diesem herrlichen fröhlichen Trubel und den leckeren Gerüchen gar nicht entfliehen will ;-)
AntwortenLöschenDas Typ aus dem Buch ist in höchstem Maße pervers!!
AntwortenLöschenHm. So sehr angetan war ich von Kraussers Neuem nicht. Man hat von diesen lose miteinander verbundenen Kurzgeschichten ein wenig zu viel gelesen in den letzten zwei Jahren; Kehlmanns "Ruhm" etwa, aber auch - überraschenderweise gar nicht so übel - Soboczynskis "Schonende Abwehr..." und die Neuerscheinung von Eva Menasse. Zudem die übliche Krausser-Menagerie, die man vielleicht ein wenig über geworden ist mit den Jahren. Das ist kein schlechtes Buch, beileibe nicht, aber ich hatte mir mehr versprochen nach den formidablen "Melodien" und der "Schmerznovelle".
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