Montag, 21. Dezember 2009

Auf Pause drücken

Anti-Wirklichkeit, eine Seifenblase aus Puderzucker, Plätzchen und Tee, das dezente Rauschen im Hintergrund bestreitet die wunderbare Simone White. Die Kälte jenseits der Haustüre bewegt mich zu arktischen Vergleichen, Pflicht und Sollen werden gegen Ende des Jahres verschwindend gering, gipfelt in der Nichtkonfrontation mit einem sonntäglich anmutenden Montagvormittag mit dem Unterschied, dass ein offener Supermarkt nebenan für unerfüllte Frühstückswünsche zur Verfügung steht. Universitäres Lernpensum wird für ein paar geisterhafte Tage durch Schöngeistigkeit ersetzt.

Inmitten literarischer Avancen junger SchriftstellerInnen, benutzter Weingläser und Teetassen ein Film über junge deutsche Geschichte, Studentenproteste, Rote Armee Fraktion und drei herausragende Biografien, die unterschiedlicher, teils schockierender nicht sein könnten: Die Anwälte.



Eine rückwirkende Ehrung verblassender Autoritäten meiner Schulzeit, die damals mein Verlangen nach Grundlagen erkannten, dieselben, die heute zu verstehen scheinen, dass ein Jurastudium, "die Juristerei das Beste ist, was sie hätten machen können". Die grundlegenden Bestimmungen einer Gesellschaft erkennen zu wollen, sich einer Wissenschaft anzunähern, deren Ambivalenz in den Schicksalen der drei RAF-Anwälte Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler fast greifbar wird. Einst verbunden durch die Auflehnung gegen die Strukturen einer naziverkrusteten Bundesrepublik und den Protest für ein Mehr an Freiheit zeigt der Film durch alte Aufnahmen und Jetzt-Interviews die grundverschiedene Entwicklung beeindruckender Persönlichkeiten.

Ich erinnere mich an einen grünen Teddybären mit roter Hose, den man lange bevor ich zu politischem Verständnis in der Lage war Otto Schily taufte - nach dem grünen Realpolitiker, der sich eines Tages rote Hosen überstreifte und als Innenminister der rot-grünen Regierungskoalition von einem Grundrecht auf Sicherheit fantasierte, den Weg ebnete für Vorratsdatenspeicherung und den Ausbau von Kompetenzen des BKA, die Entwicklung eines Polizeistaates, den er selbst in den siebziger Jahren kritisch beäugte. Seine Geschichte handelt davon, wie wandelbar das Verständnis eines Rechtsstaats sein kann. Für die außerparlamentarische Opposition der 68er-Bewegung war Schily als Teil der damaligen Anwalts-Elite, der sein Talent den Demonstranten zur Verfügung stellte, eine intellektuelle Instanz, gleichzeitig einer, der nie von Systemumstürzen träumte. Heute sagt er über persönliche Wandlungen, es sei idiotisch, sich nicht weiterzuentwickeln.

Ströbele hingegen entbehrt zu jedem Zeitpunkt einer Vorreiterrolle - eine Tatsache, die sich nur im ersten Moment defizitär gibt. Er war derjenige, der nicht zur Schah-Demo erschien, der vom Schicksal Benno Ohnesorgs durch häppchenweise Gerüchte erfuhr. Der nicht wie Schily 1983, sondern erst '85 für die Grünen in den Bundestag einzog. Über sich selbst erzählt er von seinem bereits als Kind besonders ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl. Seine Entwicklung wirkt bedächtig, zurückhaltend und überlegt. Er bleibt der Einzige der Drei, der seine Vorstellungen über Freiheit, Gerechtigkeit und Pazifismus noch heute verfolgt.

Horst Mahler durchquert das politische Spektrum, beschreibt selbst eine biografische Wanderung vom linken zum rechten Rand. Er saß für die RAF, heute sitzt er für die Leugnung des Holocaust. Während seines ersten Aufenthalts hinter Gittern brachte ihm Otto Schily Hegels gesammelte Werke. Dessen Philosophie über eine Wahrheit, die im Widerspruch liegt, habe ihn zum Nationalisten gemacht, konstatiert der heutige Mahler. Die schillerndste Persönlichkeit der drei RAF-Anwälte markiert die schandhafteste Entwicklung vom Freiheitskämpfer zum Menschenverächter, der wegen seines Intellekts im Laufe eines halben Lebens zu einer der größten Gefahrenquellen aus der rechten Szene avancierte. Dieser Intellekt ist es, der seine Kehrtwende so schwer begreifbar macht. Zurück bleibt allein die Vorahnung einer Unbekannten, dem unnahbaren Mehr als bloßem Verlangen nach einer Rolle als Staatsfeind.

Rückschritte. Aus der Perspektive des ihnen gemeinen Jurastudiums sehe ich als heutige Betrachterin drei Sichtweisen auf den Rechtsstaat in frappierender Differenz, einen unglaublichen Film über die Ambivalenz sowohl des Rechts als auch des Menschen. Ein Film, der Diskussionen nach sich zieht über polizeistaatliche Handlungsmethoden, persönliche Schicksale und NPD-Verbot in einer gezuckerten Stadt, überfüllt mit Shoppingtouristen.

Die Bevölkerung einer süddeutschen Stadt tauscht sich aus, jeden Tag folgen mehr Studierende einer bestimmten Bratenduftfahne nach Hause, gestresste Eltern aus den umliegenden Käffern stürmen die Fußgängerzone. Unwirkliche Lossagung von einer Wahlheimat für einen begrenzten Zeitraum zwischen zwei Jahren, letzte gemeinsame Mittagessen, auch wenn die darum gruppierten Vorlesungen an verschwindenden Auditorien leiden. Wenige Tage bis zu meiner Heimreise, glasiert mit süßer Untätigkeit, Musik und noch mehr Büchern und Filmen.

1 Kommentar:

  1. es ist interessant und erschreckend, wie wenig fundamentiert die menschliche persönlichkeit sein kann. alle drei sind interessante, beindruckende, teils abstoßende menschen.

    schade, dass sich die "verarbeitung" nur auf raf und flower power stürzt, aber die apo und duttschke nirgends die kinos und die gegenwart erreichen.

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