Freitag, 18. September 2009

mit suchendem blick

Gestern Abend, nach einem weiteren Tag des Hausarbeitschreibens habe ich die angeforderten Briefwahlunterlagen in der Post vorgefunden. Ich werde am Wahlsonntag zu spät aus Hamburg zurückkehren, Ankunft nach 18 Uhr in meinem Wahlkreis Heidelberg/Weinheim. Um halb neun werde ich zurück sein, mit neuen Klängen, Bands, Locations und sonstigen Eindrücken vom Reeperbahnfestival. Und trotzdem bei Betreten des WG-Wohnzimmers Fernseher und Laptop zur Rate ziehen um die aktuellen Hochrechnungen, nicht aber die Zukunft unseres Landes zu begutachten.Informiert zu sein ist ein hartes Stück Arbeit, ich lese Zeitungs- und Webartikel, diskutiere, schreibe, sehe politsch fern, halte sogar bei Maybrit Illner und Anne Will wie sonst selten bis zum Ende der Sendung durch, quäle mich durch ein in 90 Minuten mäßig informatives TV-Duell und bin an keiner parteispezifischen Front begeistert, bisher vermochte kein Wahlprogramm meinen suchenden Blick an sich zu binden, meine Augen rutschen bisweilen ab an der glatten asphaltgrauen Oberfläche. Informierte WählerInnen brauchen, wie ich eigens und erneut festgestellt habe, zunächst mal eines: Ausdauer - besonders in einem Wahlkampf nach vier Jahren Politik zum Minimalkonsens. Hoffnungen habe ich in diese Schlacht mit stumpfen Waffen trotzdem investiert, nicht zuletzt solche voyeuristischer Natur. Ein handfester Skandal hätte mir vielleicht die Entscheidung mittels zwei Kreuzen auf dem Stimmzettel maßgeblich erleichtern können oder vielleicht eine bisher geheimgehaltene Sponti-Vergangenheit von FWS. Wenig ist passiert, das bürohengstige Image des SPD-Kanzlerkandidaten ist beim neunzigminütigen Duettmarathon vergangenen Sonntag möglicherweise durch ein leicht angestrengtes Macher-Lächeln ein wenig vermenschlicht worden, politisch hielt man den Ball vorsichtshalber flach.

Ich hätte gerne irgendetwas revolutionäres angefangen mit meiner ersten Stimme zur Bundestagswahl, aber mir fehlt es hierfür entweder an Idealismus oder an Alternativen. Die Piraten hätten noch vor einigen Monaten zumindest Potential gehabt, zu einer ernsthaften Wahlalternative zu avancieren. Neue Denkstrukturen für Netz und Urheberrecht, ein Kampf für mehr Datenschutz - gegen den gläsernen Bürger und für einen transparenten Staat. Zur Bundestagswahl hatte ich jedoch ernsthafte Alternativen im Bereich zahlreicher nicht zwingend netzbezogener Themen erwartet - vergeblich. Ohne außer Acht zu lassen, dass es sich um eine sehr junge Partei handelt, müsste sie um meine Stimme zu ergattern zu einem breiteren Themenspektrum Stellung beziehen - nicht zuletzt in puncto Frauenpolitik, Antidiskriminierungsmaßnahmen und Familienpolitik. Latest results: eine hitzige Debatte in der politischen Blogosphäre über die Frauenpolitk der Piraten inlusive niveauloser, teils frauenverachtender Kommentare und weiter ohne Stellungnahme der Partei, vielleicht, weil man dort gar nicht will. Eine gute Zusammenfassung liefert hier der Genderblog. Weiter ein umstrittenes Interview des Piraten-Vize mit einem Nazischmierenblatt, der "Jungen Freiheit". Andreas Popp will gar nicht gewusst haben, um was für eine Zeitung es sich hier handelt und die Zeit fragt zu Recht: "Fehlt der Piratenpartei die Offline-Kompetenz?"

Nicht nur die Piratenpartei hat meine Erwartungen bezüglich Frauenpolitik unterboten im Regen stehen lassen. Von der CDU und deren auf höchste Geschlechtsneutralität bedachten Kanzlerin war schon vorher nichts außerordentlich emanzipatorisches zu holen, aber auch die SPD brachte mit der jungen Familienpolitikerin Manuela Schwesig keinen nennenswerten Gegenvorschlag an die Wahlkampfstartlinie (siehe meinen Beitrag zur Kinderministerin). Die Grünen finden, dass Frauen nach oben gehören, kein schlechter Ansatz eigentlich, jedoch wäre hier ein informativer Diskurs von Nutzen gewesen. Wo ist eigentlich oben, wie genau sollen Frauen dorthin und welche Grundlagen sind dafür zunächst einmal "unten" zu schaffen? Auch wenn ich nicht wie Antje Schrupp der Ansicht bin, dass es sich hier um eine absurde Forderung handelt, ist für mich vordergründig wichtig, dass Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen wie privaten oder beruflichen Höhen stattfinden muss. Die Thematik gesellschaftlicher Schichten, die soziale Gleichberechtigung zwischen arm und reich, Chefetagen vs. Hartz IV - das alles steht wiederum auf einem anderen, nicht weniger bedeutenden Stück Papier.

(Bild: grüne.de)

Insgesamt ist der Wahlkampf wenig weiblich, wie auch Tessa von flannel apparel festgestellt hat, zudem hart, grau und undurchdringlich; eine Frau zu sein, fernab von Gebährfähigkeit und Sex, dringt nicht an die politische Oberfläche.

Laut Wahl-O-Mat soll ich die Linke wählen, höchste Übereinstimmung nach meiner persönlichen Themengewichtung. Wie wählbar aber ist diese Partei? Und wie regierungsfähig? Die SED-Vergangenheit vieler Parteifunktionäre bereitet mir ebenso Kopfzerbrechen wie die Schwarzweißperspektive vieler Forderungen der Partei. 10 Euro Mindestlohn, Reichtum besteuern und am besten sofort aus der Nato austreten. Das klingt alles ganz nett, und ist damit doch nur die kleine Schwester von, genau. Obwohl auch ich die Entwicklung unserer einstigen Verteidigungsarmee in Afghanistan mit zwei kritischen Augen anglotze und soziale Gerechtigkeit gerade jetzt für eines der wichtigsten Themen halte, die es sowohl im Niedriglohnsektor als auch bei Kinderarmut und steigender Arbeitslosigkeit neu zu denken gilt, halte ich die nur auf dem Wahlkampfpapier einfachen Standpunkte der Linkspartei für größtenteils unrealistisch - da wirkt beispielsweise die Kampagne der Grünen, der sogenannte Green New Deal durchdachter. Vielleicht kann die Linke zunächst ihre Regierungskompetenz in Thüringen unter Beweis stellen, doch auch hier ergeben sich Anlaufschwierigkeiten (-> der Freitag über den Verzicht von Bodo Ramelow und die Reaktionen innerhalb der Partei).

So erschöpft sich eine meiner besten Wahlkampferfahrungen 2009 in einem Plakat, dass den heutigen Besuch von Frau Merkel in Hamburg ankündigt:

(Bild via spreeblick.com)

Yeaahh. Intonation: trocken, bissig, ironisch. So enthusiastisch wie meine Stimmabgabe.

1 Kommentar:

  1. Mir geht's mit der ganzen Sache ähnlich, obwohl ich noch nicht mal den Wahl-O-Mat benutzt habe. War anfangs auch erstmal begeistert von den Piraten, was sich mittlerweile aber quasi erledigt hat. Jetzt wähl ich halt wieder das geringste Übel, natürlich auch total enthusiastisch und so. Yeaahh.

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